Die Kunst des Zuhörens – für ein leichteres Miteinander

Sich Zeit für einander nehmen

Einem anderen Menschen zuzuhören bedeutet, sich Zeit für ihn zu nehmen – es ist ein Ausdruck von Wertschätzung und Respekt. Einander zuhören, insbesondere in Konfliktsituationen, trägt zur Entspannung und zum Vertrauen bei. Es ist, als würde ein Licht, mitunter sogar die Sonne zwischen zwei Menschen oder Gruppen aufgehen. Plötzlich sehen wir einander neu und finden gemeinsam Lösungen. Es ist die Voraussetzung für ein Miteinander - in der Familie, in der Schule, auf Arbeit und in unserer gesamten Gesellschaft.

Ich möchte hier meine Gedanken über die Kunst und die Bedeutung des Zuhörens für unser Miteinander mit Ihnen teilen. Dabei beschreibe ich auch, wieso ich es für wichtig erachte, dass Zuhören bereits in Schulen gelehrt und gelebt wird.

Inspiriert zu diesem Beitrag hat mich u.a. die politische Situation in Thüringen. Es ist eine Minderheitsregierung an der Macht und es wird nun klar, dass diese Regierung nur eine Chance hat, wenn sie auf ihre bisherigen politischen Gegner zugeht, sie ernst nimmt und gemeinsam mit ihnen Lösungen entwickelt, ohne dabei das Eigene zu verraten. Als ich mit dem Artikel fertig war, löste das Corona-Virus eine gesamtgeschellschaftlich Krise aus. Ich war erschrocken, wie schnell Menschen versuchten einander zu belehren, einander als ignorant und verantwortungslos oder als überängstlich und gehorsam bewerteten, statt einander zuzuhören. Es wird höchste Zeit, dass wir über die Art und Weise unseres Miteinanders nachdenken und gemeinsam ändern.

Doch sicherlich kennen Sie auch andere Beispiele, nämlich wie wohltuend es ist, wenn Ihnen jemand zuhört. Denn eine gelungene Kommunikation besteht mindestens zu 50 % aus Zuhören.

 

Zuhören, ohne auf der Lauer zu liegen

Es gibt verschiedene Arten des Zuhörens. Zuerst einige Gedanken zu einer Art, die destruktiv ist. Dabei hören wir nicht zu, sondern liegen auf der Lauer, um den anderen des Irrtums zu überführen. Doch dann bin ich bereits selbst Teil des Problems. Schnell wird daraus eine Schlacht der besseren Argumente. Ich verschanze mich in meiner verbalen Waffenkammer, fahre Geschütze auf, um den anderen mundtot zu machen. Es geht um Rechthaben und Gewinnen, es kommt zu Verhärtungen und Entwürdigungen. Dies ist nicht immer so offensichtlich. Es können auch kleine Spitzen, versteckte Vorwürfe oder Manipulationen dazu benutzt werden. Zum Beispiel: „Sie wissen doch aber schon, dass das eigentlich anders ist?! Hier wird nicht wirklich gefragt, sondern versucht, den anderen belehrend mundtot zu machen. Auf weitere Beispiele gehe ich später ein.

Ich kenne das alles selbst, auch die persönliche Not, die dahintersteht. Ich bin mit beiden Seiten gut vertraut. Auch in Kriegshandlungen können wir das gleiche Grundprinzip beobachten, nur mit aggressiveren Mitteln. Oder geht es bei all diesen Kämpfen vielleicht nur darum, nicht zu verlieren? Geht es vielleicht nur um den eigenen sicheren Platz, um die eigene Würde – und aus Angst vorm Verlieren, dann lieber mit aller Macht versuchen zu gewinnen?

 

Zuhören mit absichtsloser Offenheit und Präsenz

Um wirklich zuhören zu können, brauche ich eine innere Haltung von Offenheit und Präsenz. Für die Zeit des Zuhörens ist es wichtig, dass ich meine eigenen Interessen „parke“ und dabei keine anderen Themen durchdenke. Ich brauche dazu eine Haltung, die ausdrückt, „ich will dich wirklich verstehen“. Dafür brauche ich Halt und Geborgenheit in mir selbst. Dies ermöglicht mir ein klares Gespür für meine Grenzen und für die Grenzen anderer, für meine Bedürfnisse und für die Bedürfnisse anderer. Wenn ich nicht bereit bin, meinem Gegenüber zuzuhören, brauche erst ich jemand, der mir zuhört. Sonst bin ich überfordert.

Zum Zuhören gehört auch, dass ich nachfrage, wenn mir etwas unklar ist. Sehr hilfreich ist auch, zu überprüfen, ob ich meinen Gegenüber so verstanden habe, wie es ihr ist, in dem ich das, was bei mir angekommen ist, wiederhole. Das wird oft als Ausdruck von Wertschätzung erlebt.

Selbst wenn ich jemanden ausreden lasse und dann antworte, „ich verstehe dich schon, aber …“, drücke ich in Wirklichkeit aus, dass ich nichts verstanden habe, was den anderen bewegt und das ich es besser weiß. Stress pur.

Zuhören ist eine Kunst. Um sie zu erlernen braucht es neben der inneren Haltung auch Wissen, Handwerkzeug und Übung. Es ist leichter zu beschreiben, was Zuhören nicht ist. Leider.

 

Kinder sind sehr dankbar, wenn ihnen zugehört wird

Ich halte es für sehr wichtig, dass wir diese Kunst schon in unserer Kindheit erlernen. Wo könnten Menschen das besser lernen als in ihrer 10-jährigen Schulzeit? Kinder sind unendlich dankbar, wenn ihnen zugehört wird. Sie erleben sich dadurch gesehen und wertgeschätzt. Sie beginnen zu vertrauen und kooperieren gerne. Wenn sie dies nicht tun, gibt es einen Grund: Sie erleben sich nicht gesehen, sondern als abgewertet, benutzt oder gar bedroht. Sie sind dann oft sehr einsam, verschließen sich und werden aggressiv. Da nutzen dann auch keine Moralpredigten, keine Lobeshymnen und keine Liebesbeteuerungen. Kein „Ich verstehe dich schon, aber...“. Mit dem „aber“ wird klar, dass ich in Wirklichkeit nichts vom anderen verstanden habe, sondern Verständnis von ihm will.

Viele Erwachsene möchten natürlich, dass ihre Kinder ihnen zuhören. Doch in Wirklichkeit möchten sie sehr oft, dass Kinder ihnen gehorchen - das macht das eigene Leben leichter. Scheinbar, denn nur für kurze Zeit. Denn Zuhören und Gehorchen unterscheiden sich wie Miteinander und Gegeneinander. Kinder lernen Zuhören, wenn sie erleben, dass Erwachsene ihnen interessiert zuhören. Und wenn sie erleben, wie Erwachsene einander zuhören. Zum Beispiel Eltern einander, Lehrer einander, Politiker einander und Filmfiguren einander.  Kinder lernen das auf diesem Weg sehr schnell.

 

Die vorrangige Förderung kognitiver Fähigkeiten hat verheerende Auswirkungen

In der Schule werden Kinder daraufhin gefördert, dass sie einen möglichst hohen „kognitiven Wohlstand“ erreichen, mit dem Versprechen, dass sie dann als Erwachsene auch einen möglichst hohen materiellen Wohlstand erreichen können. Besonders der Wettbewerb, in den Kinder oft schon im Elternhaus und dann täglich in Schulen hineingezogen werden, verhindert die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls und von Mitgefühl. Das Vergleichen der Kinder untereinander, verbunden mit Lob und Belohnungen für die Gewinner, sowie Nichtbeachtung oder gar Abwertungen für die Verlierer, entwürdigt, macht süchtig nach Lob und Anerkennung und verführt zu Betrug und Scheinheiligkeit. Der damit verbundene Leistungsdruck löst Angst, Verweigerung, Scham und Wut aus. Kinder können dann ihre Wut nicht offen gegen die Initiatoren des Leistungsdruckes richten, sondern richten sie gegen sich selbst, gegen Schwächere oder gegen die Natur und lassen sie auch an Einrichtungsgegenständen aus. Später, im Erwachsenenalter geht es dann leider ebenfalls zu oft um Macht und Schein.

Menschen, die dem Wettbewerbsgedanken verfallen sind, können sich nicht mehr vorstellen, dass es ohne Wettbewerb eine Weiterentwicklung geben kann und es sich sehr gut leben lässt. Doch einer meiner wichtigsten Lehrer, Marshall Rosenberg, meint dazu: Wer einmal die Spielregeln für das Spiel „das Leben einander wunderschön machen“ gelernt hat, wird die Spiele „wer hat Recht“ und „das Leben einander schwer machen“ nicht mehr spielen wollen.
Doch die frühkindlichen Erfahrungen haben sich tief eingeprägt und sind schwer zu löschen. Die Angst, zu den Verlierern zu gehören, ausgegrenzt, beschämt oder bestraft zu werden sitzt tief und muss ständig mit Erfolg, Macht, Konsum oder Drogen unterdrückt werden. Darum ist Veränderung so schwer und wir rennen wissend in den Abgrund. Die andere Seite ist, alle Menschen sehen sich danach geliebt zu werden, wie sie sind. Auch die, die das abstreiten. Und das gibt mir Hoffnung.

 

Zuhören als Grundlagenfach im Bildungsplan unserer Schulen und Universitäten

Erst wenn im Lehrplan unserer Schulen die Qualität des Miteinanders an erster Stelle steht, bekommt Schule Sinn und Zukunft. Das bedeutet auch, dass Lernen nicht erzwungen werden kann und darf. Dann und nur dann werden Schüler gern zur Schule gehen, sich als wertvoll erleben, mit Leichtigkeit lernen, später selbstverständlich Verantwortung für sich übernehmen und sich konstruktiv einbringen.

Ein wertschätzendes Miteinander bedeutet kein „Pip pip, wir haben uns alle lieb“, das wäre „Himbeersoße über einen Misthaufen gießen“. Für ein wertschätzendes Miteinander braucht es Klarheit und Mut. Es bedeutet auch nicht, dass ich mich „zuquatschen“ lasse, es geht um Wohlwollen und um ein Echt-Sein, ohne zu verletzen!

Die Fähigkeiten dürfen nicht länger im Besitz einiger Fachleute, wie Psychologen sein.  Sie sind die Grundlage unseres Zusammenseins, sie gehören zur Grundausstattung aller Pädagogen. Dazu gehört auch, dass Kinder frühzeitig darin gestärkt werden, wie sie ihr Bedürfnis nach Selbst- und Mitbestimmung klarer äußern und Manipulationen durchschauen und sich davor schützen können. Kinder lernen das alles leicht, wenn sie dabei von Erwachsenen, die sich darin auskennen, unterstützt werden.  
 

Wer für die Qualität des Miteinanders verantwortlich ist

Für die Qualität des Miteinanders sind dabei immer die stärker verantwortlich, die mehr Macht haben. So sind zum Beispiel die Erwachsenen für die Qualität der Beziehung zu Kindern voll verantwortlich. Kinder können das nicht. Woher? Sie können ja nur von den Erwachsenen lernen. Erwachsene geben ihnen jedoch oft die Schuld, wenn Kinder nicht gehorsam sind. Doch das ist kein Miteinander, sondern leugnen von Verantwortung aus der eignen Hilflosigkeit.

Geschäftsführer sind für ihre Angestellten verantwortlich, weil sie dies strukturiert und gezielt implementieren können. Wenn ein Leiter daran kein Interesse hat, ist es für Unterstellte schwerer. Und unsere Regierung hat eine riesige Vorbildwirkung und leider sehr viel Macht über uns alle.  

 

Ein wertschätzendes Miteinander ist eine Lebenskunst

Eine Voraussetzung für ein wertschätzendes Miteinander ist eine liebevolle Beziehung zu mir selbst. Habe ich sie nicht, dann bin ich chronisch verspannt, überempfindlich, kontrollierend und in Gefahr schnell verletzend zu reagieren. Anderen zuhören geht gar nicht, bevor ich nicht gehört wurde. Auch Selbstverletzungen, wie eigene Abwertungen, Süchte, ungesunde Ernährung, zu viel Arbeit usw. bieten sich an, um die große Angst, die Wut, den Scherz und die Einsamkeit in mir nicht zu spüren. Halte ich diese Gefühle bewusst aus, kann ich erkennen, dass sie immer aus alten, nicht geheilten Verletzungen kommen.  Mit etwas Übung, zu Beginn auch mit fachkundiger Begleitung, kann ich hier aussteigen, das Alte vorbei sein lassen und in mir Heilung und Frieden finden.

Bin ich mit mir im Frieden, bin ich widerstandsfähiger, gelassener, kraftvoller, gesünder und fröhlicher. Es ist mir eine Selbstverständlichkeit, dass ich auch wertschätzend bin und auch anderen zuhören kann.

Die Kunst des Miteinanders können wir erlernen. Als mir bewusst wurde, wieviel verbale Gewalt mitunter in meinen Worten steckt, war ich sehr betroffen und erschrocken. Seitdem übe ich gezielt, meine Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern. Es ist die lohnendste Arbeit, die ich kenne. Mein Leben ist ruhiger, reicher und bunter geworden. Und ständig entdecke ich weitere und neue Möglichkeiten, mich selbst und andere klarer zu sehen und zu verstehen.

Demnächst:

Hinweise für die Praxis - Was Zuhören und einander Verstehen unterstützt und was es blockiert.